Eisenbahngeschichten.

Jer Kahnwärter Martin Lin Weihnächte -Abend.

Irren ist menschlich.

s war am 16. Dezember des kalten Jahres 1859. Der De­zember hatte bis daher eine diplomatische Neutralität beob­achtet und hatte, nicht kalt und nicht warm, sowohl mit dem vergangenen Herbste als dem kommenden Winter zu lieb­äugeln gesucht, als habe er, ein achter Diplomat, die löbliche Absicht, es mit keiner Partei zu verderben. Es ging aber nimmer länger, denn die Na­tur kümmert sich verdammt wenig um diplomatische Künste, und so mußte denn der alte Herr nolens volens den Herbst im Stiche lassen oder desavouiren, wie man auf diplomatisch sich ausdrückt, und hatte sich grol­lend in den aller entschiedensten Winter hineingeworfen.

Am Abende dieses Tages schien der alte Brummer ganz besonders übler Laune; er hatte den Mond und alle Sterne ausgeputzt, sich in seinen finstersten Nachtman­tel gehüllt, seine dickste Wolkenmütze tief über die Augen herunter gezogen, und so schritt er, seine Schneelocken zor­nig schüttelnd und aus vollen Backen Nordsturm blasend durch da« Land, daß die Wälder ächzten unter dem Hauch feine«. Mundes und alles Leben erstarrte unter seinem ei­sigen Tritte.

In dreier Wintersturm-Nacht draußen inr Freien zu sein gehört offenbar nicht zu den angenehmsten Situa­tionen dieses Lebens, und dieß schien auch vollkommen die Ansicht des einsamen Wanderers, der sich quer über die Felder durch den Schneesturm kämpfte, bei jedem Schritte bis über'die Waden einsank, und zur Abwechs­lung auch bis an die Hüfte in einen mit Schnee gefüll­ten Wässerungsgraben fiel; und bei jedem derartigen Plumpfer brummte, lachte und fluchte er durcheinander, als fei er noch nicht ganz mit sich einig ob er die Sache ernst oder spaßhaft nehmen solle.

Eben hatte er eine Hecke, die ihm den Weg versperrte, durchschritten, hatte sich auf der andern Seite durch einen Graben hindurch gearbeitet und stand pustend und sich schüttelnd auf einer kleinen Anhöhe:Zum Henker", brummte er,hatte eS nicht für möglich gehalten; laufe schon 20,Jahre in dem Revier und muß gerade heute wie ein schneeblinder Esel im Felde herumtappen". Jetzt hielt er die Hand an'S Ohr und lauschte.Da mag der Teufel etwa« hören bei diesem lümmelhaften Sturme; ich muß weiter und müßte ich die ganze Nacht auf den Beinen sein. Das wäre ein Fressen ftir die Herren Holz­diebe, wenn sie morgen früh den Waldhüter Feltr auf dem Schneefelde fänden, steif wie ein Eiszapfen; ich

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glaube sie liefen alle mit meiner Leiche, die Hallunken". Ho, ho", lachte er,so weit sind wir noch nicht, der alte Felix ist noch da und sitzt Euch morgen wieder auf dem Nacken, nehmet auch vor dem Felix "in Acht."Wo nur rer Faßan bleibt?" unterbrach jetzt der Waldhüter sein Selbstgespräch und spähete in die greifbare Finsterniß hinaus,Pah! so finster wie in einer Kuh. Die Bestie wird irgendwo im Schnee stecken"; der Alte steckte zwei Finger zwischen die Zähne und that drei gellende Pfiffe: Faßan! Hierrrein! Hierrrrei-n!" Doch Pfiff und Ruf verhallten machtlos im Sturme.Der Bursche wird gescheidter gewesen sein, wie sein Esel von Herr und schon daheim hinter dem warmen Ofen sitzen", murrre er und wandte sich mißmuthig, um seinen mühevollen Marsch im Schnee fortzusetzen. Da leuchtete plötzlich ein Etwas wie ein Meteor durch die Nacht, eine grelle, blendende Helle, die nach fünf Sekunden wieder plötzlich in der tiefsten Finsterniß umerging.Was Henker ist denn das?" rief der Alte erstaunt und starrte wie,geblendet in die finstere Nacht hinaus. Jetzt wieder diese strahlende und plötzlich verschwindende Helle, dann ein eigenthümlich brummen­des. grollendes Geräusch, zwei riesige rothglühende Augen leuchteten durch die Nacht und ein schwarzes Ungeheuer kämpfte sich schnaubend und keuchend durch den Sturm, von einer dichten Schneewolke umsprüht, einen ganzen Schnee-Wall vor sich herschiebend und die Schnee-Massen zu beiden Seiten um sich herschlendernd, gerade gegen die Stelle heran, wo der Waldhüter seinen Monolog gehal­ten hatte.JesuS, die Eisenbahn!" schrie er und wollte eiligst Fersengeld geben, aber schon hatte ihn eine Schnee­welle gefaßt, um und umgedreht, und ehe sein -Angstruf noch recht aus der Kehle war, hatte der arme Waldhüter einen unfreiwilligen Purr zelbaum gemacht und lag be­wußtlos und fußhoch'mit f Schnee bedeckt im Graben.,

; Rasch wie sie gekommen ver­schwand die unheimliche Er­scheinung, einen Sprühregen von Schnee hinter sich drein wirbelnd, ihr keuchender, schnaubender Athrm verlor sich in der Entfernung im Toben des Sturmes," und dieser hatte im Nu die ver­hängnisvolle Stelle wieder so eben und glatt gefegt, als ob da nicht ein Menschenherz unter dem Schnee schlüge; und wahrlich, die Schlage dieses Herzens schienen ge­zählt, und wenn nicht schleu­nig Hilfe kam, so konnte da« Gleichniß des Waldhüters vom Eiszapfen und dem Leichenbegängnisse leicht zur eisigen Wahrheit werden.

Faßan! such' ver­loren!

etzt glänzte wieder ein Licht durch die Nacht, aber es war nicht ein unheimlich leuchtender, greller Lichtblitz, wie er so eben dem alten Felix die Augen geblendet, sondern es entströmte mild leuchtend einem Fenster, das kaum zwanzig Schritte weit von der Stelle, wo der Waldhüter ferne Turnerstückchen ausgeführt hatte, in

Hink. Bote 1863.

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