G

Karlsruher Beobachter.

Nr. LZ.

Sonntag den 6. Juni

L8L7

Gretna Green. *)

Der Gesetzvvrschlag, der so eben vor dos Parlament gekom­men, und wahrscheinlich bald als Gesetz anerkannt sein wird, bildet eine wichtige Periode in der Geschichte von Gretna Green, dem Venustempe! unserer Zeit» dem Loretto Großbritanniens, an dessen Altar alle Wünsche erhört, alle Wunden geheilt, alle Seufzer gestillt wurden, dessen unverstegbarer Gnadenquelle Studenten und Offiziere, Lords und Ladies, Zöglinge und Erzie­herinnen mit voller Zuverstcht zueilten, und wo alle ohne Aus­nahme Erhörung fanden. Gretna Green ist deßhalb einer der bekanntesten Gnadenvrte Eurvpa's; kein Saut Jag», kein Maria- Einstedel, kein Czenstvchowa kann damit verglichen werden. Da es in der Wirklichkeit für Liebesleiden, für Herzensstöhnen ein so unfehlbarer Thränenstiller ist, wer kann stch wundern, wenn die Hälfte englischer Romane, biographischer Notizen und histo­rischer Novellen stch wie Planeten um diese Sonne drehen; w,er kann sich wundern, wenn Gretna Green einer der süßesten, ge- heimnißvvllsten, romantischsten und verbreitetsten Namen der englischen Sprache ist; Gretna Green, das Zauberwort aller un­glücklich Liebenden; ein Hvffnungsstern (nicht ein jenseitiger, ein in nebelgraue Fernen gehüllter deutscher Mond- und Sehnsuchts­stern, sondern ein, für praktische Britten, naher, wirklich erreich­barer, von dem das Wo und Wie genau bekannt und abgemessen ist), der alle Drangsalen, die durch konventionelle Gesetze oder Porurtheile, durch Rang. Stand oder Vermögen erzeugt werden, mit arkadischen Lüften anweht, erzürnte Väter besänftigt, Stände susgleicht, Abgründe eben macht und Bergs verseht; wer kann stch wundern, daß das Schicksal dieses großen Freihafens, der in gerader Linie zur idyllischen Schäferwelt führt, im herzoglichen Palast, in Kasernen, in Penstonaken gleich bedeutungsvoll ist! Um jedoch auch auf deutschem Bode» verstanden zu sein, müssen ein paar Worte über den Ursprung und die Geschichte dieses LrteS, der jetzt mit dem im britischen Parlament vorhandenen Gesetze seine Glanzperiode schließt, vvrausgeschickt werden..

Die schottischen Reformer, die in ihrem Religionseifer und ihrem Kathollkenhaß keine Gränzen kannten, und tetzhalb schnur­stracks in die entgegengesetzte Richtung rannten, nahmen auch dem Chebündniffe allen religiösen Charakter, rerwarfen die sakra- Aentalische Form so weit, daß sie es für einen Akt bloß conven- Uvneller Uebereinkunft erklärten. Als nach den blutigen Reli- stionskämpfen der englischen und schottischen Puritaner, die Ver­einigung zwischen Nord- und Sübbritannien abgeschlossen wurde, und die Verwahrung der schottischen Gesetzgebung, und Anerken­nung der schottisch calrinistischen Kirche Grundbedingungen wur­den, ging auch mit dem Reste die Gültigkeit der schottischen Ehe

auf Englands Boden über. Diese Ehe bestand und besteht bis auf diesen Augenblick in nichts anderm, als in der einfachen Er­klärung des Mannes, in Gegenwart zweier Zeugen, daß dieß seine Frau sei. Ob dieß im Ernst oder im Scherze, nüchtern oder im Trünke, mit oder gegen die Einwilligung der Eltern gesagt werde, alles hilft nichts; beide sind vermählt, wenn es irgend dem Mädchen gefällt, die Aussage in Anspruch zu neh­men. Einige englische Lords, die mit galanten Damen eine Ver­gnügungsreise nach Schottland machten, wurden auf öffentlichen Bällen, sei es durch Zufall oder durch Jntrigue, verleitet ihre Damen, da niemand mit ihnen tanzen wollte und Ließ Thränen verursachte, als Lady M. und Lady N. vorzustellen. Von dem Augenblick an drängten sich die Tänzer um die Ehre einer Quadrille, und zum großen Erstaunen der Herren, zum großen Skandal der Familien, mußten diese als gesetzmäßig vermählt, angesehen werden.

Da nun einmal Schottland das Land der wilden und doch anerkannten Ehe war, wurde es ein Zufluchtsort für alle durch Rang, Alter, Vermögen oder sonstige Umstände getrennten Lie- benden; der Jntrigue wie der Verführung und momentaner Be­täubung fielen und fallen »och tägliche Opfer. Namentlich sind Erziehungsanstalten, Pensivnate, die Pflanzschule für schöttische Ehen; schöne und »eiche Mädchen werden mit einem Male ver­mißt; sie sind weg mit einem Offizier, einem jungen Maler, sehr häufig auch mit dem Sprach-, Zeichnungs- oder Tanzmeister der Anstalt. Entführungen sind in England Mode, und in den höch­sten und besten Familien tägliche Ereignisse. Was Wunder, daß sich schottische Industrie dahin verleiten ließ, diese Privilegien zu benutzen, und ein Heirathsmvnopol zum Gebrauche der Jugend Englands zu errichten! Dieser Ort mußte unter schottischem Ge­setze stehen, mo möglichst nahe an der englischen Gränze sein, und alle Bequemlichkeiten für eine schnelle Vollziehung der Ehe und sonstige Annehmlichkeiten darbieten. Solch ein Ort ist Gretna Green.

Jedes Postpferd, jedes Mädchen kennt den Weg, und jeder Bauernjunge siehl's den Peitschenhieben an, nach welchem Zau- berlande der mit dichten Vorhängen geschloffene Wagen rollt. Die Väter ihrerseits kennen den Weg ebensogut, und es ereignet sich manchmal, daß das überselige Brautpaar, am Ziele seiner Wanderfahrt augekvmmen, dem Baker anstatt dem Posthalter in die Arme springt und von ihm mit der Reitpeitsche Heimgetrie­ben wird.

Gretna liegt im südlichsten Theile der Grafschaft Oumfries, in der ersten Pfarrei Schottlands. Der Weg von London, Man­chester oder Liverpool geht an den englischen Seen (englisl, Inlees), einer der schönsten, romantischsten Gegenden Europa s, an den Gebirgen von Lancaster, Cumberland und Westmvreland vorüber. Cumberland, die gegen Nvrdwesten äußerste Grafschaft Englands, ist durch einen kleinen Fluß, Sark, von Dumfries getrennt. Old

') Au- der Allgemeinen Zeitung.