Donnerstag, 3. Januar 1950

SÜDKUBIER

Nr. 2 / Seite S

Die Frau im deutschen Gesellschaftsbild

Die deutsche Bevölkerung belief sich 1933 auf rund 66 Millionen. Heute ist sie auf 68 .Millionen angestiegeru Der Zu­wachs erklärt sich aus der Zahl von ca. 10 Millionen Flüchtlingen. Danach könnte die immer noch unbestimmte Größe der Kriegsopfer auf etwa 6 Millionen errech­net werden, wenn uns nicht bis auf den heutigen Tag die echte Zahl der noch in russischer Kriegsgefangenschaft befind­lichen Männer vorenthalten wäre.

Selbstverständlich macht dieser Umstand ebenso wie die nach dem Krieg einsetzen­de Völkerwanderung jedes Zahlenbild an­greifbar. Dazu kommt, daß die Teilung Deutschlands nur schwer einen Ueberblick gewinnen läßt. Während aber 1933 65 Mil­lionen Deutscher auf einer Fläche von 470 000 qkm leben konnten, stehen heute nur ca. 350 000 qkm für 68 Mill. Menschen zur Verfügung. Deshalb soll mit diesem Bericht zumindest der Versuch gemacht werden, unsere soziologischen Verhält­nisse mit ihren Gründen und den sich dar­aus folgernden Notwendigkeiten einer Be­trachtung zu unterziehen.

Diehierwiedergegebene Zeichnung veran­schaulicht den Altersaufbau unserer Be­völkerung in Form eines Lebensfoaumes. Drei Dinge gehen daraus hervor:

1. die sich bereits nach dem ersten Welt­krieg abzeichnende Ueberalterung unseres Volkes hat sich verstärkt. Dies drückt die Ausbuchtung der Alterbkurve im oberen Drittel aus.

2. Der ebenfalls nach dem ersten Welt­krieg anwachsende Frauenüberschuß ist heute noch größer geworden. Nach dem statistischen Jahrbuch 1933 zählte man 106 Frauen auf 100 Männer. Heute köm­men etwa 123 Frauen auf 100 Männer, ln den arbeitsfähigen Jahrgängen sogar 130 auf 100.

3. Die heute dem Alter nach leistungs­fähigen Jahrgänge sind zählenmäßig die geringsten, was einmal auf den Geburten­rückgang während des Krieges 1914 zu­rückgeführt werden muß, zum anderen auf die Verluste dieser Jahrgänge im letzten Krieg.

Die Zahlen der Bizone und der West­toren Berlins beruhen auf statistischen Angaben der letzten Zeit, ebenso die Zahl der Gesamtbevölkerung und die der Ar­beitslosen der französischen Zone. Die übrigen Ziffern dieser Zone sind nach einer Aufstellung vom 29. 10. 46 geschätzt, als die Bevölkerung nur 5 063178 Millio­nen betrug. Die hier angeführten Zahlen des Ostsektors und der Ostzone wurden nach der Volkszählung vom 31. 8. 46 und Zeitungsberichten der Ostzone geschätzt. Vor allem werden in diesen Gebieten die Arbeitslosenziffem verschleiert gehalten. Man kann sie jedoch wegen der Zwangs- Verpflichtungen nach Aue niedrig taxieren. Außerdem macht sich die Wirtschaft der - Ostzone den Währungskurs von West-Ost mit 1:5,8 zunutze. Mit dem bekannten ka­pitalistischen Mittel des Währungsdum­pings sorgt sie künstlich für Arbeit. Es ist mit der unlauteren Methode, dem Arbei­ter schlechtere Löhne zu geben, verbun­den.

1933 betrug der Anteil der Menschen, die erwerbsfähig und zur Arbeit bereit waren, im Verhältnis zum ganzen Volks­körper rund 49 Proz. Von diesen waren 35 Prozent Frauen, die zugleich rund ein Drittel aller deutschen Frauen darstellten. Die schwere Wirtschaftskrise um 1930 warf jedoch 5,8 Mill. Menschen aus ihrem Be­ruf, so daß die Erhaltung des Volkes auf ca. 40 Proz. der Bevölkerung lag. Die dann folgende Explosion ist bekannt. Ein nicht unwesentlicher Grund für die Chance Hit­lers , zur Macht zu kommen, muß in der Verzweiflung vieler ihrer Existenz be­raubter 'Menschen gesehen werden.

Heute gibt es in unserem Volk nur 46,7°/« Erwerbspersonen. Da wir jedoch mit etwa 1,9 MÜL Arbeitsloser zu rechnen haben, liegt die Last der Gesamtvolks­erhaltung auf 44°/», womit wir wiederum einen Schritt den so gefährlichen Quoten der 30iger Jahre näher gekommen sind. Der Anteil weiblicher Arbeitskräfte hat sich auf ca. 38% erhöht. Dieser Prozent­satz stellt nur ein knappes Drittel aller deutschen Frauen dar und reicht bei dem Übergewicht des oberen Lebensbaumes nicht aus. Die Zeichnung spricht die ernste und deutliche Sprache, daß für jede Frau, die arbeitswillig und arbeitsfähig ist, auch Arbeit geschaffen werden muß, um einmal die zu geringe Zahl der Männer gleicher Jahrgänge in der Erhaltung der aiheits- unfähigen Bevölkerung zu unterstützen, zum anderen damit sich diese Frauen solange wie möglich selbst ernähren. Im gleichen Sinne wird von der Leistungs­kraft der jetzt ein- bis zehniährigen, deren Zahl nach der untersten Einkerbung des Lebensbaumes wieder zu gering ist, in 20 Jahren über genug verlangt werden. Diese Altersgruppen stellen nach der untersten Einkerbung des Lebensbaumes wieder eine zu schmale Basis für den starken Überhang der arbeitsunfähigen Bevölke­rung dar. Dazu kommt, daß gerade der höchste Frauenüberschuß heute bei den Jahrgängen liegt, die jetzt ihre Kinder bekommen müßten, jedoch nicht bekom­men werden, weil einfach die Väter fehlen. Demzufolge muß noch auf weitere Jahre die Basis derer, die einmal die Er­nährer stellen soll, schmal bleiben. Die Kenntnis dieser Tatsache fordert zu der Überlegung auf. wie der heutigen und

kommenden Mädchengeneration eine Be­

rufsausbildung gegeben werden kann ent- { sprechend derjenigen der Jungen, aber i

doch rationell auf ihre spezifischen Kräfte j eingehend, damit sie später als Frauen den j Männern vollwertig zur Seite stehen j

können. I

Bei 69,4 MM. Menschen auf eine Fläche von rund 350 000 qkm muß der fehlende Raum so sorgfältig wie möglich genutzt und was an Länge und Breite fehlt, in der

Die Darlegungen dürften die Wichtig­keit der Frau als Aktivum im Volksganzen aufzeigen. Nach dieser Feststellung muß davor gewarnt werden, jetzt etwa aus dem Notstand der Arbeitslosigkeit den Ausweg dahingehend suchen zu wollen, daß man Arbeitsplätze von Frauen für Männer freimacht. Dieses Experiment ist aus der Zeit nach dem vorigen Kriege und den späteren Krisenjahren nicht unbe­kannt. Das Resultat sind die heute hilf­losen Frauen, die auf Grund jener Hand­habung eine Berufsausbildung für über­flüssig hielten und in der Ehe die bessere Garantie sahen.

Das für die Erhaltung des Volkes heute so notwendige Berufsinteresse der Frauen könnte eine schwere Störung erfahren, wollte man wieder zu dieser Verlegenheits­lösung greifen, die umso unangebrachter ist, als sie einen Verstoß gegen das in der Bonner Konstitution verankerte Prinzip der Gleichberechtigung darstellt.

Von Annedore Leber

Höhe gesucht werden. Es heißt, daß Fa­briken gebaut werden müssen für die Exportproduktion, durch die wir die nötige Einfuhr von Lebensmitteln bezah­len können. Derartige Verkaufsgüter kön­nen jedoch nur von Menschen gefertigt werden, die eine fachliche Ausbildung haben. Je rechtzeitiger man überlegt, um­so rationeller wird man Mädchen in diese Berufszweige hineinführen können. Es heißt aber auch, daß unsere landwirt­schaftlichen Gebiete eine Steigerung der Agraraproduktion erzielen müssen auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Forschungen. Eine Ausbildung der Mäd­chen auf diesem Gebiet ist umso nötiger, als heute z. B. schon 55% der in der Land­wirtschaft der Bizone Tätigen von den Frauen gestellt werden.

Und nicht zuletzt heißt es, daß die oft und intensiv genug geforderte Zurückfüh­rung der noch in Kriegsgefangenschaft befindlichen Männer endlich erfüllt wer­den muß, deren Heim­kehr auf der Mos­kauer Konferenz zum 31. Dezember 1948 vertraglich festgelegt war. Dieser Termin wurde nicht einge­halten. Nach einer neuerlichen Zusage der Sowjet-Regierung sollte nun aber die Rückführung bis zum Ende des vergangenen Jahres durchgeführt sein. Wenn mensch­liche Gründe bis­her nicht ausreichten, diese, die gesamte in Rechtssicherheit le­bende Gesellschaft an­gehende Frage zu be­reinigen, so ist zu hoffen, daß die so dringende Rückkehr der Kriegsgefangenen aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt. Nur die Gesunden und Kräftigen haben die harte, strapazenreiche Zeit der Kriegsgefan­genschaft überstan­den. Sie wurden zu­rückgehalten, weil sie in der Mehrzahl Spe­zial- und Fachkräfte sind. Diese braucht unser Volk zur Len­kung der ungelernten Kräfte, zur Ent­lastung der Frauen und zur Berufs- erzieburug des Nach­wuchses.

LEBENSBAUM

(entnommen: .Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard. Trüjen-Verl., Bremen .)

In ungefährer Größenordnung aufgeteilt nach Zonen, Erwerbspersonen, Männern und Frauen.

WEIBLICH

UNTER /*/ / JAHR

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Zonen:

Gesamt-

Männer:

Frauen:

Erwerbs-

Männer:

Frauen

Erwerbs-

bevölkg.

persanen:

lose:

Bizone

41,7 Mill.

19,2 Mill.

22,5 Mill.

19,7 Mill.

12,3 Mill.

7,4 Miü.

1,23 Mill.

Franz.

6,2 Mill.

2,8 Mill.

3,4 Miü.

3,1 Mill.

1,0 Mill.

1,2 Miü.

0,06 Miü.

Sowjet

17,8 Mill.

7.7 Mill.

10,1 Mil,

7,8 Mild.

4,8 Mill.

3,0 Mill.

0,35 Mill.

Bln.-O.

1,2 Mül.

0,5 Mill.

0,7 Mill.

0,58 Mül.

0,34 Mill.

0,24 Mül.

Bln.-W.

2,1 Mill.

0,9 Miü.

1,2 Mill.

1,12 Mill.

0,62 Mill.

0,50 Mill.

0,24 Mül.

69,0 Mill.

31,1 Mül.

37,9 Mill

32,30 Mil.

19,96 Mill.

12,34 Mill.

1,88 Mill.

Bürgerdämmerung

Das Zeitalter des kleinen Mannes - Nivellierung der Ansprüche

Das Haus steht in einer ruhigen Alee- straße und wie seine Nachbarn ist es ein hochherrschaftliches Haus. Zwar ist seine Eleganz schäbig geworden und etwas ko­misch dazu; aber 1876 waren die sinnlosen Kuppeln über dem Erker, die pseudo­renaissancehaften Karyatiden mit den halb- vermauerten Butzenscheibenfenstern sicher sehr apart. So sah die Villa eines Fabri­kanten aus, eine Einfamilienvilla mit acht Zimmern und vier Mansarden für Gäste und Dienstboten gerade so viel als da­mals nötig war, um standesgemäß und re­präsentativ zu wohnen.

Heute halben sieben Familien darin Platz. Im Erdgeschoß hausen zwei Intellektuelle: ein Universitätsdozent und ein Journalist. Die Mahagoni-Vertäfelung kleidet zwar das Fliichtlingsmotoiliar des Journalisten wie der ausgeborgte Frack den kleinen Stati­sten, der einen Herrn der besten Gesell­schaft zu minien hat, aber man ist zufrie­den: die Illusion des Bürgerlichen ist we­nigstens gerettet

Nicht ganz so glücklich ist Herr Fahri- cius, einst Verleger, jetzt Verlagslektor und politischer Flüchtling aus Potsdam , ein Stockwerk hoher. Sein Zimmer gleicht ei­nem Trödlerladen. Seine Frau, eine zier­liche Dame, aus verarmtem Adel, leidet un­ter der Enge mehr noch als unter den Un­annehmlichkeiten der Küchenbenützung zu dritt Bisweilen weint sie still, wenn sie den Kohleneimer aus dem Keller herauf­schleppt und die Kräfte sie zu verlassen drohen. Herr Faibricius versucht dann zu trösten:Denk mal, wenn wir in Potsdam geblieben wären.. Was zu ergänzen ist, weiß sie aus ungezählten Gesprächen, näm­lich:... dann wäre ich wahrscheinlich heute in Buchenwald ...

Die Avancierten

Da hat es der Nachbar, Herr Mein ecke, besser getroffen. Sein ist der hochherr­schaftliche Balkon mit Gartenaussicht, und das ist für einen kleinen Gemüsehändler zweifellos ein soziales Avancement Er ver­dankt es der RM-Zeit und seiner Verfü­gungsgewalt über kompensationsfähige Kar­toffeln, Rüben und Kahlköpfe. Steigen wir höher ins Mansardervgescfcoß. Hier finden wir neben den Töchtern des Fabricius und zwei Studentinnen Herrn Schnitze, als

Hausmeister eine gewichtige Persönlichkeit und dazu ein Mann mit Beiziehungen. Seine nicht ganz durchsichtigen, aber offenbar lu­krativen Geschäftsverbindungen aus der Zeit vor dem Tage X, tragen jetzt nach Früchte: er baut. Bald wird er der Wohn­küche, die ihn seit 26 Jahren beherbergte, kalt lächelnd Ade sagen. Und ihr eigentlicher Herr und Besitzer? Er wohnt mit seiner Frau nebenan in einer Doppelmansarde, dem billigsten Gemach des Hauses: mehr kann er sich nicht leisten, wozu auch. Die Söhne sind gefallen, die Töchter verheira­tet, die ererbte Fabrik von Bomben zerstört oder demontiert Wenn er wollte, könnte er natürlich seine Industrieverbindungen ausnützen, um sich eine neue Position zu schaffen. Alber er ist alt und müde, seine Mansarde ist ein freiwilliges, resigniert verbittertes Exil.

Nimmt es da Wunder, wenn Herr Schnitze mit dem Hausherrn nur noch in gönnerhaft spöttischer Vertraulichkeit verkehrt? Darf er es nicht er, der Erfolgreiche, der es geschafft hat? Als der Hausherr einen langwierigen, eigensinnigen Prozeß um das Recht der Garbenbenüteung gegen Meinecke verliert, beglückwünscht Herr Schultze den Sieger mit unverhohlener Genugtuung:Das gönne ich dem Alten! Die Zeiten sind vor­bei, wo che Herrschaften uns kujonieren konnten!

Die Rache des kleinen Mannes: hier ist der kitschdramatische Titel am Platze. Denn was sich vor unseren Augen auf geräumi­gerer Bühne vollzieht, als in unserer Villa in der Alleestraße, ist ein soziales Schau­spiel größten. Stils. Die Welt, die Zeit des kleinen Mannes, das sind Ort und Zeit der Handlung.

Der Abstieg des Bürgers ist augenfällig. Er ist zum Prügelknaben der sozialen Aus­einandersetzungen geworden. Wie wenig schmeichelhaft sind schon die Zusammen­setzungen, in denen sein Name fast aus- I schließlich erscheint: als verächtlicher Spieß- oder Pfahlbürger, als Besitzbürger, was im politischen Sprachgebrauch fast noch schlimmer ist. Nur der Gastwirt, der seine Küche alsgut bürgerlich anpreißt, hat das Wort als Wertbegriff herüberge­rettet. Aber wo ist derstolze Bürger hin?

Er wagt es ja selbst nicht mehr, sich zu sich selbst zu bekennen. Sogar die politischen Parteien, die auf seinen Stimmzettel speku­lieren, verwahren sich dagegen,bürger­lich genannt zu werden. An wen appelie- rea die Wahlplakate? An die Arbeiter, an die Proletarier, an den Mittelstand, an den Flüchtling, an die Freiheit, Einheit, Fortschritt liebenden, der Bürger er­scheint nirgends unter den An gesproche­nen. Man braucht ihn; aber man braucht ihn nicht mehr zu umwerben.

Die historische Leistung

Daher hätte derBürger allen Grund, sich bewußt zu bekennen. Seine Leistung und Vergangenheit berechtigt ihn zumin­dest zu wehmütigem historischem Stolz. Denn er ißt es, der die moderne Welt ge­schaffen hat: die Fundamente sowohl, wie das geistige und gesellschaftliche Gebäude darauf. Selbst jetzt noch, nachdem das Erd­beben zweier Weltkriege seine Grundmau­ern ins Wanken gebracht hat, ist es eine imposante Ruine. Im bürgerlichen Bett ge­zeugt ist dermoderne Mensch der Re­naissance: der frei von den Fesseln mittel­alterlicher Scholastik denkende, protestie­rende, kritische, forschende, entdeckende Bürger. Die Stadt wird zur umwälzendsten gesellschaftlichen Schöpfung des Abendlan­des. Erst als die großen Städte aufblühen, wird der Reichtum des Globus erschlossen: die Gier nach den Gewürzen und Schätzen des fernen Orients lockt die Seefahrer des ozeanischen Europas zur Entdeckung unbe­kannter Erdteile. Die Kargheit des mittel­alterlich-ritterlichen Landlebens weicht der Wohlhabenheit des städtischen und es sind überall Bürger, die wagen und neue Werte schaffen: in Venedig , Genua und Florenz , wie in Antwerpen , Augsburg und Lübeck .

Auch als die Macht der Städte von den absolutistischen Landesherren gebrochen wird, bleiben Bürger die wirtschaftliche und geistige Säule des Staatswesens; der Adel zieht sich immer mehr in die Reservate der Regierung, Heerführung und Bodenbewirt­schaftung zurück. Das technische 19. Jahr­hundert bringt die Hoch-Zeit des Bürger­tums.

Sein Ende kündet die Dämmerung an, und schließlich versetzt sich das Bürgertum im ersten Weltkrieg den Todesstoß mit den gleichen Waffen der Technik, die es selbst geschaffen bat. Was nachher kommt, ist nur nach Abdankung. In Rußland durch blutige Gewalt, in Deutschland durch frei­willige begeisterte Ergebung in das Joch des Diktators, in England durch schritt­weise Nivellierung.

Die Erben

Dem Ansturm der Massen war das ängst­lich am Besitz und Sicherheit haftende Bür­gertum nicht mehr gewachsen, seit zwei Kriege beides mit den Dämmen der alten Ordnung hinwegschiwemmten. Es mußte weichen wem eigentlich? Wer sind die neuen oder kommenden Herrn der Gesell­schaft?

Derkleine Mann, dessen Zeitalter ge­kommen ist, unterscheidet sich vomBür­ger alten Stils mehr noch als durch sei­nen Mangel an Besitz und Sicherheit, durch die größere Banalität seiner Ansprüche. Der Raffke des 19. Jahrhunderts war rück­sichtslos, aber sein Egoismus hatte einen Zug ins Große. Die Rücksichtslosigkeit des kleinen Mannes von heute erschöpft sich darin, seine Nachbarn aus der Zweizimmer­wohnung mit Küchenbenützung henauszu- boxen, wenn er sich nicht, gefügig einem Befehl gehorchend, grausam zum kalten Massenmord ohne Gewissensbisse hergibt Und wenn dersoziale Staat die Aktions­freiheit der Ellbogentechniker einschränkt so nivelliert er zugleich seine Wünsche und Aspirationen. Die Bürokratisierung des modernen Gesellschaftslebens läßt gleichgeschalteter denken als einst, weni­ger riskieren, obwohl weniger zu verlie­ren ist. Wir leben, wie es Professor Horkheimer aus New York kürzlich in ei­nem Vortrag in Frankfurt sagte, in einer Angestellten-Kultur.

Geben wir uns keinen Illusionen hin: nirgends auf der Welt kehrt jene Aera der maximalen Freiheit zurück, die die Lebens­kraft des alten Bürgertums spendete. Aber eben so wenig wird es jemals ganz ver­schwinden; nur bildet es sich in neuer Ge­stalt Die Sowjetunion stellt das beste Bei­spiel. Proletarier sein ist nackte Wirklich­keit, aber nicht mehr oder nur noch als parteihistorische Parole amtlich er­wünscht Rollpullover und Chauffeurjacke sind in besseren Sowjetkreisen nicht mehr modern. Die Arrivierten tragen ein weißes Hemd, wohnen in einer bürgerlichen Zwei- zimmer-IWohniung und führen am Sonntag im Kulturpark den Festtagsstaat spazieren. Das uneingestandene Ideal ist der Ford- Arbeiter.

Der nivellierte Bürger ist nirgends auf- zuhaiten. Es kommt nur darauf an, ihm die geistigen Werte zu retten, die seiner ab­dankenden Vorgänger bester Teilwaren: die Freiheit des Denkens, den Wagemut des Handelns, die Toleranz der Meinung vor allem immerhin Werte, um die wir das viel gelästerte 19. Jahrhundert schon beneiden dürfen. K. H,

Tragödie der deutschen Emigration

Von H. G. vonStudnitz

Wenn man die Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und der deutschen Emigration untersucht, so wird man zu der Feststellung gelangen müssen, daß diese kaum glückliche genannt werden können. Denn nur wenige Emigranten kehrten nach Deutschland zurück, wurden von der Volksgemeinschaft wieder aufgenommen und gelangten nn ihr zu neuem Wirken und Ansehen. Ebenso ist die Zahl derjenigen gering, die kn Auslande verbleibend, nach dem Kriege alte Bindungen zu erneuern vermochte, die dem Vaterland wie dem entfremdeten Sohne zum Segen wurden. Zusammengenommen Ist die Stellung der deutschen Emigration fünf Jahre nach Hit­lers Ende nicht frei von Bitterkeit und Zwiespältigkeiten.

In Deutschland wird der Emigrant häu­fig als eine Art von Kriegsgewinnler be­trachtet, als jemand, der im Gegensatz zu den übrigen Deutschen auf die richtige Seite gesetzt hat und heute Früchte erntet, die eigentlich unverdient sind. Man läßt dabei außer acht, daß zumindestens die­jenigen Emigranten, die Deutschland vor 1838 verließen, mitunter auch eine sichere Existenz mit einer sehr unsicheren Zu­kunft vertauschten. Man vergißt, daß äe es in Deutschland nicht schlecht gehabt haben würden, wenn sie sich in die Verhältnisse gefügt oder mitgemacht hätten. Man über­sieht, daß viele dem Rufe ihres Gewissens folgten und diesen höher stellten als ihre Bequemlichkeit. Bei denjenigen, die Deutschland infolge der Rassepolitik ver­ließen, wird vergessen, daß sie nur so ihr Leben zu retten vermochten. Davon ab­gesehen war es vor dem Kriege auch drau­ßen nicht einfach, gegen Hitler aufzutreten, denn viele ausländische Regierungen trie­benappeasement policy .

Diejenigen, die die Zurückgekehrten heute ablehnen, finden es häufig unange­nehm, Menschen zu begegnen, die Recht behalten haben und denen gegenüber man so etwas wie ein schlechtes Gewissen emp­findet. Der Weg zu gemeinsamen An­schauungen scheint verbaut. Auch ohne Politik gewinnt der Emigrant draußen Ein­drücke, die sein Denken verändern und ihn die Heimat anders als vordem sehen lassen. Diese Verschiedenheit der Einstel­lung des Eimigranten wird in Deutschland vielfach falsch gedeutet. Wer sich hier mit der Vergangenheit innerlich auseinander­gesetzt hat, ohne se^i eigenes Tun und Lassen zu beschönigen, der wird auch dem zurückgekehrten EJmdgranten jenes Ent­gegenkommen zeigen, auf das dieser An­spruch haben' darf, wenn die Motive seiner Emigration saubere, ehrliche oder unver­meidliche waren.

Auf der anderen Seite muß sich die Emigration mitverantwortlich machen, wenn äe im Nachkriegsdeutschland auf Zurückhaltung oder Abweisung stößt. Für den Emigranten gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, sobald er die Niederlassung in der Fremde vollzogen hat. Er kann sich von den politischen Angelegenheiten seines Vaterlandes zurtickziehen, um sich seinem Lebenserwerb zu widmen. Auf diese Weise wurden die Hugenotten zu einem wertvollem Teil der Berliner Bürger­schaft, gelangten nach der französischen Revolution viele vertriebene Adelige zu hohen Ehren und Stellungen in ihren

Adaptiwaterländem. Die zweite Möglich­keit besteht darin, den Zustand der Emi­gration als etwas Vorübergehendes aufzu- fassen und die Sicherheit des Exils zur Vorbereitung neuer politischer Aktionen zu benutzen.

Die deutsche Emigration entschied sich im allgemeinen weder für das eine noch für das andere. Sie löste sich äußerlich, aber nicht infterlich uon Deutschland und beging vielfach sogar den Fehler, im Rin­gen um ihre materielle Existenz ihre geisti­gen und politischen Fähigkeiten Inter­essenten anzutragen, mit denen sie wenig verband außer dem Wunsch, Hitler zu stürzen. Die deutsche Emigration wurde dadurch in ihren berechtigten, auf eine Erneuerung Deutschlands gerichteten Be­strebungen von ihren Gastländern in einer Weise abhängig, die äe der eigenen Aktionsfreriheit beraubte und zum Gehil­fen von Bemühungen machte, die nicht nur gegen Hitler , sondern gegen Deutschland schlechthin gerichtet waren. Während es heute eine seit 1639 außer Landes befind­liche, bei allen inneren Gegensätzen doch sehr existente und geschlossene spanische Emigration ur.d Auslandsoppoätion gegen Franco gibt, die jederzeit regierungsbereit wenn auch vielleicht nicht regierungs­fähig wäre blieb die deutsche Emigra­tion der Hitlerzeit eine politisch überhaupt nicht ins Gewicht fallende Erscheinung.

Die deutsche Emigration beging zum Teil einen entscheidenden Fehler. Soweit äe zurückkehrte, tat äe dies nicht nur unter dem Schutz der Besatzungsmächte, sondern vielfach als Jeren Funktionäre. In der Ost­zone wurde sie arum Rückgrat der SED , d. h. des Werkzeuges der russischen Aus­beutung, in den Westzonen stellte äe einen sehr erheblichen Teil des Personals der Militärregierungen und Militärgerichte, und zwar nicht nur des dolmetschenden. Außer­dem aber tat das Auftreten einzelner be­kannter Emigranten wie etwa von ThomasMann der Sache der Emigration beim deutschen Volk starken Abbruch. Es ist leider so, daß demgegenüber die Tätigkeit so tapfer für Deutschland Tingender ehe­maliger Emigranten wie des Hamburger Bürgermeisters Brauer und des Berliner Oberbürgermeisters Reuter viel zu wenig bekannt geworden äst. Gerade ihre Bei­spiele beweisen, daß Emigranten in Deutschland nicht abgelehnt werden, wenn sie von dem Wunsche beseelt sind, nicht nur Wiedergutmachung zu verlangen, son­dern auch zu helfe®.

Gerade die Emigration, die nach dem Westen ging, wäre berufen, zu vermitteln und Gegensätze zu mildem statt zu ver­schärfen. Niemand würde ihr eine solche Rolle mehr danken als das deutsche Volk, Jeder Eimigrant, der Deutschland noch liebt, sollte so und nicht anders handeln. Kann er dagegen sein Ressentiment nicht überwinden was menschlich begreiflich wäre so würde er der Sache der Wieder­annäherung Deutschlands an die Welt einen Dienst erweisen, wenn er deutschen Angelegenheiten fermbleibt. Diejenigen Emigranten, die zurückkehren wollen, sollten als Deutsche zurückkehren. Je mehr sie dazu entschlossen sind, desto eher kann zwischen ihnen und ihrem Volk ein neues Anfang gemacht werden.