Donnerstag, 3. Januar 1950
SÜDKUBIER
Nr. 2 / Seite S
Die Frau im deutschen Gesellschaftsbild
Die deutsche Bevölkerung belief sich
1933 auf rund 66 Millionen. Heute ist sie
auf 68 .Millionen angestiegeru Der Zu¬
wachs erklärt sich aus der Zahl von ca.
10 Millionen Flüchtlingen. Danach könnte
die immer noch unbestimmte Größe der
Kriegsopfer auf etwa 6 Millionen errech¬
net werden, wenn uns nicht bis auf den
heutigen Tag die echte Zahl der noch in
russischer Kriegsgefangenschaft befind¬
lichen Männer vorenthalten wäre.
Selbstverständlich macht dieser Umstand
ebenso wie die nach dem Krieg einsetzen¬
de Völkerwanderung jedes Zahlenbild an¬
greifbar. Dazu kommt, daß die Teilung
Deutschlands nur schwer einen Ueberblick
gewinnen läßt. Während aber 1933 65 Mil¬
lionen Deutscher auf einer Fläche von
470 000 qkm leben konnten, stehen heute
nur ca. 350 000 qkm für 68 Mill. Menschen
zur Verfügung. Deshalb soll mit diesem
Bericht zumindest der Versuch gemacht
werden, unsere soziologischen Verhält¬
nisse mit ihren Gründen und den sich dar¬
aus folgernden Notwendigkeiten einer Be¬
trachtung zu unterziehen.
Diehierwiedergegebene Zeichnung veran¬
schaulicht den Altersaufbau unserer Be¬
völkerung in Form eines Lebensfoaumes.
Drei Dinge gehen daraus hervor:
1. die sich bereits nach dem ersten Welt¬
krieg abzeichnende Ueberalterung unseres
Volkes hat sich verstärkt. Dies drückt die
Ausbuchtung der Alterbkurve im oberen
Drittel aus.
2. Der ebenfalls nach dem ersten Welt¬
krieg anwachsende Frauenüberschuß ist
heute noch größer geworden. Nach dem
statistischen Jahrbuch 1933 zählte man
106 Frauen auf 100 Männer. Heute köm¬
men etwa 123 Frauen auf 100 Männer, ln
den arbeitsfähigen Jahrgängen sogar 130
auf 100.
3. Die heute dem Alter nach leistungs¬
fähigen Jahrgänge sind zählenmäßig die
geringsten, was einmal auf den Geburten¬
rückgang während des Krieges 1914 zu¬
rückgeführt werden muß, zum anderen auf
die Verluste dieser Jahrgänge im letzten
Krieg.
Die Zahlen der Bizone und der West¬
toren Berlins beruhen auf statistischen
Angaben der letzten Zeit, ebenso die Zahl
der Gesamtbevölkerung und die der Ar¬
beitslosen der französischen Zone. Die
übrigen Ziffern dieser Zone sind nach
einer Aufstellung vom 29. 10. 46 geschätzt,
als die Bevölkerung nur 5 063178 Millio¬
nen betrug. Die hier angeführten Zahlen
des Ostsektors und der Ostzone wurden
nach der Volkszählung vom 31. 8. 46 und
Zeitungsberichten der Ostzone geschätzt.
Vor allem werden in diesen Gebieten die
Arbeitslosenziffem verschleiert gehalten.
Man kann sie jedoch wegen der Zwangs-
Verpflichtungen nach Aue niedrig taxieren.
Außerdem macht sich die Wirtschaft der
- Ostzone den Währungskurs von West-Ost
mit 1:5,8 zunutze. Mit dem bekannten ka¬
pitalistischen Mittel des Währungsdum¬
pings sorgt sie künstlich für Arbeit. Es ist
mit der unlauteren Methode, dem Arbei¬
ter schlechtere Löhne zu geben, verbun¬
den.
1933 betrug der Anteil der Menschen,
die erwerbsfähig und zur Arbeit bereit
waren, im Verhältnis zum ganzen Volks¬
körper rund 49 Proz. Von diesen waren
35 Prozent Frauen, die zugleich rund ein
Drittel aller deutschen Frauen darstellten.
Die schwere Wirtschaftskrise um 1930 warf
jedoch 5,8 Mill. Menschen aus ihrem Be¬
ruf, so daß die Erhaltung des Volkes auf
ca. 40 Proz. der Bevölkerung lag. Die dann
folgende Explosion ist bekannt. Ein nicht
unwesentlicher Grund für die Chance Hit¬
lers, zur Macht zu kommen, muß in der
Verzweiflung vieler ihrer Existenz be¬
raubter 'Menschen gesehen werden.
Heute gibt es in unserem Volk nur
46,7°/« Erwerbspersonen. Da wir jedoch
mit etwa 1,9 MÜL Arbeitsloser zu rechnen
haben, liegt die Last der Gesamtvolks¬
erhaltung auf 44°/», womit wir wiederum
einen Schritt den so gefährlichen Quoten
der 30iger Jahre näher gekommen sind.
Der Anteil weiblicher Arbeitskräfte hat
sich auf ca. 38% erhöht. Dieser Prozent¬
satz stellt nur ein knappes Drittel aller
deutschen Frauen dar und reicht bei dem
Übergewicht des oberen Lebensbaumes
nicht aus. Die Zeichnung spricht die ernste
und deutliche Sprache, daß für jede Frau,
die arbeitswillig und arbeitsfähig ist, auch
Arbeit geschaffen werden muß, um einmal
die zu geringe Zahl der Männer gleicher
Jahrgänge in der Erhaltung der aiheits-
unfähigen Bevölkerung zu unterstützen,
zum anderen damit sich diese Frauen
solange wie möglich selbst ernähren. Im
gleichen Sinne wird von der Leistungs¬
kraft der jetzt ein- bis zehniährigen, deren
Zahl nach der untersten Einkerbung des
Lebensbaumes wieder zu gering ist, in 20
Jahren über genug verlangt werden. Diese
Altersgruppen stellen nach der untersten
Einkerbung des Lebensbaumes wieder
eine zu schmale Basis für den starken
Überhang der arbeitsunfähigen Bevölke¬
rung dar. Dazu kommt, daß gerade der
höchste Frauenüberschuß heute bei den
Jahrgängen liegt, die jetzt ihre Kinder
bekommen müßten, jedoch nicht bekom¬
men werden, weil einfach die Väter
fehlen. Demzufolge muß noch auf weitere
Jahre die Basis derer, die einmal die Er¬
nährer stellen soll, schmal bleiben. Die
Kenntnis dieser Tatsache fordert zu der
Überlegung auf. wie der heutigen und
kommenden Mädchengeneration eine Be¬
rufsausbildung gegeben werden kann ent- {
sprechend derjenigen der Jungen, aber i
doch rationell auf ihre spezifischen Kräfte j
eingehend, damit sie später als Frauen den j
Männern vollwertig zur Seite stehen j
können. I
Bei 69,4 MM. Menschen auf eine Fläche
von rund 350 000 qkm muß der fehlende
Raum so sorgfältig wie möglich genutzt
und was an Länge und Breite fehlt, in der
Die Darlegungen dürften die Wichtig¬
keit der Frau als Aktivum im Volksganzen
aufzeigen. Nach dieser Feststellung muß
davor gewarnt werden, jetzt etwa aus
dem Notstand der Arbeitslosigkeit den
Ausweg dahingehend suchen zu wollen,
daß man Arbeitsplätze von Frauen für
Männer freimacht. Dieses Experiment ist
aus der Zeit nach dem vorigen Kriege und
den späteren Krisenjahren nicht unbe¬
kannt. Das Resultat sind die heute hilf¬
losen Frauen, die auf Grund jener Hand¬
habung eine Berufsausbildung für über¬
flüssig hielten und in der Ehe die bessere
Garantie sahen.
Das für die Erhaltung des Volkes heute
so notwendige Berufsinteresse der Frauen
könnte eine schwere Störung erfahren,
wollte man wieder zu dieser Verlegenheits¬
lösung greifen, die umso unangebrachter
ist, als sie einen Verstoß gegen das in der
Bonner Konstitution verankerte Prinzip
der Gleichberechtigung darstellt.
Von Annedore Leber
Höhe gesucht werden. Es heißt, daß Fa¬
briken gebaut werden müssen für die
Exportproduktion, durch die wir die
nötige Einfuhr von Lebensmitteln bezah¬
len können. Derartige Verkaufsgüter kön¬
nen jedoch nur von Menschen gefertigt
werden, die eine fachliche Ausbildung
haben. Je rechtzeitiger man überlegt, um¬
so rationeller wird man Mädchen in diese
Berufszweige hineinführen können. Es
heißt aber auch, daß unsere landwirt¬
schaftlichen Gebiete eine Steigerung der
Agraraproduktion erzielen müssen auf der
Grundlage neuester wissenschaftlicher
Forschungen. Eine Ausbildung der Mäd¬
chen auf diesem Gebiet ist umso nötiger,
als heute z. B. schon 55% der in der Land¬
wirtschaft der Bizone Tätigen von den
Frauen gestellt werden.
Und nicht zuletzt heißt es, daß die oft
und intensiv genug geforderte Zurückfüh¬
rung der noch in Kriegsgefangenschaft
befindlichen Männer endlich erfüllt wer¬
den muß, deren Heim¬
kehr auf der Mos¬
kauer Konferenz zum
31. Dezember 1948
vertraglich festgelegt
war. Dieser Termin
wurde nicht einge¬
halten. Nach einer
neuerlichen Zusage
der Sowjet-Regierung
sollte nun aber die
Rückführung bis zum
Ende des vergangenen
Jahres durchgeführt
sein. Wenn mensch¬
liche Gründe bis¬
her nicht ausreichten,
diese, die gesamte in
Rechtssicherheit le¬
bende Gesellschaft an¬
gehende Frage zu be¬
reinigen, so ist zu
hoffen, daß die so
dringende Rückkehr
der Kriegsgefangenen
aus wirtschaftlichen
Gründen erfolgt. Nur
die Gesunden und
Kräftigen haben die
harte, strapazenreiche
Zeit der Kriegsgefan¬
genschaft überstan¬
den. Sie wurden zu¬
rückgehalten, weil sie
in der Mehrzahl Spe¬
zial- und Fachkräfte
sind. Diese braucht
unser Volk zur Len¬
kung der ungelernten
Kräfte, zur Ent¬
lastung der Frauen
und zur Berufs-
erzieburug des Nach¬
wuchses.
LEBENSBAUM
(entnommen: .Reparationen, Sozialprodukt, Lebensstandard”. Trüjen-Verl., Bremen.)
In ungefährer Größenordnung aufgeteilt nach Zonen, Erwerbspersonen,
Männern und Frauen.
WEIBLICH
UNTER /*/ / JAHR
.Xpmd Vspm- mü&. fypoü o ..... f&Mo wo.o&o
Zonen:
Gesamt-
Männer:
Frauen:
Erwerbs-
Männer:
Frauen
Erwerbs-
bevölkg.
persanen:
lose:
Bizone
41,7 Mill.
19,2 Mill.
22,5 Mill.
19,7 Mill.
12,3 Mill.
7,4 Miü.
1,23 Mill.
Franz.
6,2 Mill.
2,8 Mill.
3,4 Miü.
3,1 Mill.
1,0 Mill.
1,2 Miü.
0,06 Miü.
Sowjet
17,8 Mill.
7.7 Mill.
10,1 Mil,
7,8 Mild.
4,8 Mill.
3,0 Mill.
0,35 Mill.
Bln.-O.
1,2 Mül.
0,5 Mill.
0,7 Mill.
0,58 Mül.
0,34 Mill.
0,24 Mül.
Bln.-W.
2,1 Mill.
0,9 Miü.
1,2 Mill.
1,12 Mill.
0,62 Mill.
0,50 Mill.
0,24 Mül.
69,0 Mill.
31,1 Mül.
37,9 Mill
32,30 Mil.
19,96 Mill.
12,34 Mill.
1,88 Mill.
Bürgerdämmerung
Das Zeitalter des kleinen Mannes - Nivellierung der Ansprüche
Das Haus steht in einer ruhigen Alee-
straße und wie seine Nachbarn ist es ein
hochherrschaftliches Haus. Zwar ist seine
Eleganz schäbig geworden und etwas ko¬
misch dazu; aber 1876 waren die sinnlosen
Kuppeln über dem Erker, die pseudo¬
renaissancehaften Karyatiden mit den halb-
vermauerten Butzenscheibenfenstern sicher
sehr apart. So sah die Villa eines Fabri¬
kanten aus, eine Einfamilienvilla mit acht
Zimmern und vier Mansarden für Gäste
und Dienstboten — gerade so viel als da¬
mals nötig war, um standesgemäß und re¬
präsentativ zu wohnen.
Heute halben sieben Familien darin Platz.
Im Erdgeschoß hausen zwei Intellektuelle:
ein Universitätsdozent und ein Journalist.
Die Mahagoni-Vertäfelung kleidet zwar das
Fliichtlingsmotoiliar des Journalisten wie
der ausgeborgte Frack den kleinen Stati¬
sten, der einen Herrn der besten Gesell¬
schaft zu minien hat, aber man ist zufrie¬
den: die Illusion des Bürgerlichen ist we¬
nigstens gerettet
Nicht ganz so glücklich ist Herr Fahri-
cius, einst Verleger, jetzt Verlagslektor
und politischer Flüchtling aus Potsdam, ein
Stockwerk hoher. Sein Zimmer gleicht ei¬
nem Trödlerladen. Seine Frau, eine zier¬
liche Dame, aus verarmtem Adel, leidet un¬
ter der Enge mehr noch als unter den Un¬
annehmlichkeiten der Küchenbenützung zu
dritt Bisweilen weint sie still, wenn sie
den Kohleneimer aus dem Keller herauf¬
schleppt und die Kräfte sie zu verlassen
drohen. Herr Faibricius versucht dann zu
trösten: „Denk mal, wenn wir in Potsdam
geblieben wären.. Was zu ergänzen ist,
weiß sie aus ungezählten Gesprächen, näm¬
lich: „... dann wäre ich wahrscheinlich
heute in Buchenwald...“
Die Avancierten
Da hat es der Nachbar, Herr Mein ecke,
besser getroffen. Sein ist der hochherr¬
schaftliche Balkon mit Gartenaussicht, und
das ist für einen kleinen Gemüsehändler
zweifellos ein soziales Avancement Er ver¬
dankt es der RM-Zeit und seiner Verfü¬
gungsgewalt über kompensationsfähige Kar¬
toffeln, Rüben und Kahlköpfe. Steigen wir
höher ins Mansardervgescfcoß. Hier finden
wir neben den Töchtern des Fabricius und
zwei Studentinnen Herrn Schnitze, als
Hausmeister eine gewichtige Persönlichkeit
und dazu ein Mann mit Beiziehungen. Seine
nicht ganz durchsichtigen, aber offenbar lu¬
krativen Geschäftsverbindungen aus der
Zeit vor dem Tage X, tragen jetzt nach
Früchte: er baut. Bald wird er der Wohn¬
küche, die ihn seit 26 Jahren beherbergte,
kalt lächelnd Ade sagen. Und ihr eigentlicher
Herr und Besitzer? Er wohnt mit seiner
Frau nebenan in einer Doppelmansarde,
dem billigsten Gemach des Hauses: mehr
kann er sich nicht leisten, wozu auch. Die
Söhne sind gefallen, die Töchter verheira¬
tet, die ererbte Fabrik von Bomben zerstört
oder demontiert Wenn er wollte, könnte
er natürlich seine Industrieverbindungen
ausnützen, um sich eine neue Position zu
schaffen. Alber er ist alt und müde, seine
Mansarde ist ein freiwilliges, resigniert
verbittertes Exil.
Nimmt es da Wunder, wenn Herr
Schnitze mit dem Hausherrn nur noch
in gönnerhaft spöttischer Vertraulichkeit
verkehrt? Darf er es nicht — er,
der Erfolgreiche, der es geschafft hat?
Als der Hausherr einen langwierigen,
eigensinnigen Prozeß um das Recht der
Garbenbenüteung gegen Meinecke verliert,
beglückwünscht Herr Schultze den Sieger
mit unverhohlener Genugtuung: „Das
gönne ich dem Alten! Die Zeiten sind vor¬
bei, wo che Herrschaften uns kujonieren
konnten!“
Die Rache des kleinen Mannes: hier ist
der kitschdramatische Titel am Platze. Denn
was sich vor unseren Augen auf geräumi¬
gerer Bühne vollzieht, als in unserer Villa
in der Alleestraße, ist ein soziales Schau¬
spiel größten. Stils. Die Welt, die Zeit des
kleinen Mannes, das sind Ort und Zeit der
Handlung.
Der Abstieg des Bürgers ist augenfällig.
Er ist zum Prügelknaben der sozialen Aus¬
einandersetzungen geworden. Wie wenig
schmeichelhaft sind schon die Zusammen¬
setzungen, in denen sein Name fast aus-
I schließlich erscheint: als verächtlicher
Spieß- oder Pfahlbürger, als Besitzbürger,
was im politischen Sprachgebrauch fast
noch schlimmer ist. Nur der Gastwirt, der
seine Küche als „gut bürgerlich“ anpreißt,
hat das Wort als Wertbegriff herüberge¬
rettet. Aber wo ist der „stolze Bürger“ hin?
Er wagt es ja selbst nicht mehr, sich zu sich
selbst zu bekennen. Sogar die politischen
Parteien, die auf seinen Stimmzettel speku¬
lieren, verwahren sich dagegen, „bürger¬
lich“ genannt zu werden. An wen appelie-
rea die Wahlplakate? An die Arbeiter, an
die Proletarier, an den Mittelstand, an den
Flüchtling, an die Freiheit, — Einheit, —
Fortschritt — liebenden —, der Bürger er¬
scheint nirgends unter den An gesproche¬
nen. Man braucht ihn; aber man braucht
ihn nicht mehr zu umwerben.
Die historische Leistung
Daher hätte der „Bürger“ allen Grund,
sich bewußt zu bekennen. Seine Leistung
und Vergangenheit berechtigt ihn zumin¬
dest zu wehmütigem historischem Stolz.
Denn er ißt es, der die moderne Welt ge¬
schaffen hat: die Fundamente sowohl, wie
das geistige und gesellschaftliche Gebäude
darauf. Selbst jetzt noch, nachdem das Erd¬
beben zweier Weltkriege seine Grundmau¬
ern ins Wanken gebracht hat, ist es eine
imposante Ruine. Im bürgerlichen Bett ge¬
zeugt ist der „moderne“ Mensch der Re¬
naissance: der frei von den Fesseln mittel¬
alterlicher Scholastik denkende, protestie¬
rende, kritische, forschende, entdeckende
Bürger. Die Stadt wird zur umwälzendsten
gesellschaftlichen Schöpfung des Abendlan¬
des. Erst als die großen Städte aufblühen,
wird der Reichtum des Globus erschlossen:
die Gier nach den Gewürzen und Schätzen
des fernen Orients lockt die Seefahrer des
ozeanischen Europas zur Entdeckung unbe¬
kannter Erdteile. Die Kargheit des mittel¬
alterlich-ritterlichen Landlebens weicht der
Wohlhabenheit des städtischen — und es
sind überall Bürger, die wagen und neue
Werte schaffen: in Venedig, Genua und
Florenz, wie in Antwerpen, Augsburg und
Lübeck.
Auch als die Macht der Städte von den
absolutistischen Landesherren gebrochen
wird, bleiben Bürger die wirtschaftliche und
geistige Säule des Staatswesens; der Adel
zieht sich immer mehr in die Reservate der
Regierung, Heerführung und Bodenbewirt¬
schaftung zurück. Das technische 19. Jahr¬
hundert bringt die Hoch-Zeit des Bürger¬
tums.
Sein Ende kündet die Dämmerung an, und
schließlich versetzt sich das Bürgertum im
ersten Weltkrieg den Todesstoß mit den
gleichen Waffen der Technik, die es selbst
geschaffen bat. Was nachher kommt, ist
nur nach Abdankung. In Rußland durch
blutige Gewalt, in Deutschland durch frei¬
willige begeisterte Ergebung in das Joch
des Diktators, in England durch schritt¬
weise Nivellierung.
Die Erben
Dem Ansturm der Massen war das ängst¬
lich am Besitz und Sicherheit haftende Bür¬
gertum nicht mehr gewachsen, seit zwei
Kriege beides mit den Dämmen der alten
Ordnung hinwegschiwemmten. Es mußte
weichen — wem eigentlich? Wer sind die
neuen oder kommenden Herrn der Gesell¬
schaft?
Der „kleine Mann“, dessen Zeitalter ge¬
kommen ist, unterscheidet sich vom „Bür¬
ger“ alten Stils mehr noch als durch sei¬
nen Mangel an Besitz und Sicherheit, durch
die größere Banalität seiner Ansprüche.
Der Raffke des 19. Jahrhunderts war rück¬
sichtslos, aber sein Egoismus hatte einen
Zug ins Große. Die Rücksichtslosigkeit des
kleinen Mannes von heute erschöpft sich
darin, seine Nachbarn aus der Zweizimmer¬
wohnung mit Küchenbenützung henauszu-
boxen, wenn er sich nicht, gefügig einem
Befehl gehorchend, grausam zum kalten
Massenmord ohne Gewissensbisse hergibt
Und wenn der „soziale Staat“ die Aktions¬
freiheit der Ellbogentechniker einschränkt
so nivelliert er zugleich seine Wünsche
und Aspirationen. Die Bürokratisierung
des modernen Gesellschaftslebens läßt
gleichgeschalteter denken als einst, weni¬
ger riskieren, obwohl weniger zu verlie¬
ren ist. Wir leben, wie es Professor
Horkheimer aus New York kürzlich in ei¬
nem Vortrag in Frankfurt sagte, in einer
Angestellten-Kultur.
Geben wir uns keinen Illusionen hin:
nirgends auf der Welt kehrt jene Aera der
maximalen Freiheit zurück, die die Lebens¬
kraft des alten Bürgertums spendete. Aber
eben so wenig wird es jemals ganz ver¬
schwinden; nur bildet es sich in neuer Ge¬
stalt Die Sowjetunion stellt das beste Bei¬
spiel. Proletarier sein ist nackte Wirklich¬
keit, aber nicht mehr — oder nur noch als
parteihistorische Parole — amtlich er¬
wünscht Rollpullover und Chauffeurjacke
sind in besseren Sowjetkreisen nicht mehr
modern. Die Arrivierten tragen ein weißes
Hemd, wohnen in einer bürgerlichen Zwei-
zimmer-IWohniung und führen am Sonntag
im Kulturpark den Festtagsstaat spazieren.
Das uneingestandene Ideal ist der Ford-
Arbeiter.
Der nivellierte Bürger ist nirgends auf-
zuhaiten. Es kommt nur darauf an, ihm die
geistigen Werte zu retten, die seiner ab¬
dankenden Vorgänger bester Teilwaren:
die Freiheit des Denkens, den Wagemut
des Handelns, die Toleranz der Meinung
vor allem — immerhin Werte, um die wir
das viel gelästerte 19. Jahrhundert schon
beneiden dürfen. K. H,
Tragödie der deutschen Emigration
Von H. G. vonStudnitz
Wenn man die Beziehungen zwischen
dem deutschen Volk und der deutschen
Emigration untersucht, so wird man zu der
Feststellung gelangen müssen, daß diese
kaum glückliche genannt werden können.
■Denn nur wenige Emigranten kehrten nach
Deutschland zurück, wurden von der
Volksgemeinschaft wieder aufgenommen
und gelangten nn ihr zu neuem Wirken und
Ansehen. Ebenso ist die Zahl derjenigen
gering, die kn Auslande verbleibend, nach
dem Kriege alte Bindungen zu erneuern
vermochte, die dem Vaterland wie dem
entfremdeten Sohne zum Segen wurden.
Zusammengenommen Ist die Stellung der
deutschen Emigration fünf Jahre nach Hit¬
lers Ende nicht frei von Bitterkeit und
Zwiespältigkeiten.
In Deutschland wird der Emigrant häu¬
fig als eine Art von Kriegsgewinnler be¬
trachtet, als jemand, der im Gegensatz zu
den übrigen Deutschen auf die richtige
Seite gesetzt hat und heute Früchte erntet,
die eigentlich unverdient sind. Man läßt
dabei außer acht, daß zumindestens die¬
jenigen Emigranten, die Deutschland vor
1838 verließen, mitunter auch eine sichere
Existenz mit einer sehr unsicheren Zu¬
kunft vertauschten. Man vergißt, daß äe es
in Deutschland nicht schlecht gehabt haben
würden, wenn sie sich in die Verhältnisse
gefügt oder mitgemacht hätten. Man über¬
sieht, daß viele dem Rufe ihres Gewissens
folgten und diesen höher stellten als ihre
Bequemlichkeit. Bei denjenigen, die
Deutschland infolge der Rassepolitik ver¬
ließen, wird vergessen, daß sie nur so ihr
Leben zu retten vermochten. Davon ab¬
gesehen war es vor dem Kriege auch drau¬
ßen nicht einfach, gegen Hitler aufzutreten,
denn viele ausländische Regierungen trie¬
ben „appeasement policy“.
Diejenigen, die die Zurückgekehrten
heute ablehnen, finden es häufig unange¬
nehm, Menschen zu begegnen, die Recht
behalten haben und denen gegenüber man
so etwas wie ein schlechtes Gewissen emp¬
findet. Der Weg zu gemeinsamen An¬
schauungen scheint verbaut. Auch ohne
Politik gewinnt der Emigrant draußen Ein¬
drücke, die sein Denken verändern und ihn
die Heimat anders als vordem sehen
lassen. Diese Verschiedenheit der Einstel¬
lung des Eimigranten wird in Deutschland
vielfach falsch gedeutet. Wer sich hier mit
der Vergangenheit innerlich auseinander¬
gesetzt hat, ohne se^i eigenes Tun und
Lassen zu beschönigen, der wird auch dem
zurückgekehrten EJmdgranten jenes Ent¬
gegenkommen zeigen, auf das dieser An¬
spruch haben' darf, wenn die Motive seiner
Emigration saubere, ehrliche oder unver¬
meidliche waren.
Auf der anderen Seite muß sich die
Emigration mitverantwortlich machen,
wenn äe im Nachkriegsdeutschland auf
Zurückhaltung oder Abweisung stößt. Für
den Emigranten gibt es grundsätzlich zwei
Möglichkeiten, sobald er die Niederlassung
in der Fremde vollzogen hat. Er kann sich
von den politischen Angelegenheiten seines
Vaterlandes zurtickziehen, um sich seinem
Lebenserwerb zu widmen. Auf diese
Weise wurden die Hugenotten zu einem
wertvollem Teil der Berliner Bürger¬
schaft, gelangten nach der französischen
Revolution viele vertriebene Adelige zu
hohen Ehren und Stellungen in ihren
Adaptiwaterländem. Die zweite Möglich¬
keit besteht darin, den Zustand der Emi¬
gration als etwas Vorübergehendes aufzu-
fassen und die Sicherheit des Exils zur
Vorbereitung neuer politischer Aktionen
zu benutzen.
Die deutsche Emigration entschied sich
im allgemeinen weder für das eine noch
für das andere. Sie löste sich äußerlich,
aber nicht infterlich uon Deutschland und
beging vielfach sogar den Fehler, im Rin¬
gen um ihre materielle Existenz ihre geisti¬
gen und politischen Fähigkeiten Inter¬
essenten anzutragen, mit denen sie wenig
verband außer dem Wunsch, Hitler zu
stürzen. Die deutsche Emigration wurde
dadurch in ihren berechtigten, auf eine
Erneuerung Deutschlands gerichteten Be¬
strebungen von ihren Gastländern in
einer Weise abhängig, die äe der eigenen
Aktionsfreriheit beraubte und zum Gehil¬
fen von Bemühungen machte, die nicht nur
gegen Hitler, sondern gegen Deutschland
schlechthin gerichtet waren. Während es
heute eine seit 1639 außer Landes befind¬
liche, bei allen inneren Gegensätzen doch
sehr existente und geschlossene spanische
Emigration ur.d Auslandsoppoätion gegen
Franco gibt, die jederzeit regierungsbereit
— wenn auch vielleicht nicht regierungs¬
fähig wäre — blieb die deutsche Emigra¬
tion der Hitlerzeit eine politisch überhaupt
nicht ins Gewicht fallende Erscheinung.
Die deutsche Emigration beging zum Teil
einen entscheidenden Fehler. Soweit äe
zurückkehrte, tat äe dies nicht nur unter
dem Schutz der Besatzungsmächte, sondern
vielfach als Jeren Funktionäre. In der Ost¬
zone wurde sie arum Rückgrat der SED,
d. h. des Werkzeuges der russischen Aus¬
beutung, in den Westzonen stellte äe einen
sehr erheblichen Teil des Personals der
Militärregierungen und Militärgerichte, und
zwar nicht nur des dolmetschenden. Außer¬
dem aber tat das Auftreten einzelner be¬
kannter Emigranten wie etwa von Thomas
Mann der Sache der Emigration beim
deutschen Volk starken Abbruch. Es ist
leider so, daß demgegenüber die Tätigkeit
so tapfer für Deutschland Tingender ehe¬
maliger Emigranten wie des Hamburger
Bürgermeisters Brauer und des Berliner
Oberbürgermeisters Reuter viel zu wenig
bekannt geworden äst. Gerade ihre Bei¬
spiele beweisen, daß Emigranten in
Deutschland nicht abgelehnt werden, wenn
sie von dem Wunsche beseelt sind, nicht
nur Wiedergutmachung zu verlangen, son¬
dern auch zu helfe®.
Gerade die Emigration, die nach dem
Westen ging, wäre berufen, zu vermitteln
und Gegensätze zu mildem statt zu ver¬
schärfen. Niemand würde ihr eine solche
Rolle mehr danken als das deutsche Volk,
Jeder Eimigrant, der Deutschland noch
liebt, sollte so und nicht anders handeln.
Kann er dagegen sein Ressentiment nicht
überwinden — was menschlich begreiflich
wäre — so würde er der Sache der Wieder¬
annäherung Deutschlands an die Welt
einen Dienst erweisen, wenn er deutschen
Angelegenheiten fermbleibt. Diejenigen
Emigranten, die zurückkehren wollen,
sollten als Deutsche zurückkehren. Je mehr
sie dazu entschlossen sind, desto eher kann
zwischen ihnen und ihrem Volk ein neues
Anfang gemacht werden.