SUDKURIE*
Nr. 48 / Seite I
«Nitee, W. Ami 1947
Drüben am Untersee , in Gaienhofen , hat
■ Hermann Heese vor dem ersten Weltkrieg, im Glanze jungen, fast etwas billigen Ruhmes („Peter Camenzind ”!), etliche Jahre einer beinahe „bürgerlichen” Existenz verbracht, und in manche seiner larthingetupften Skizzen, in manche seiner Gedichte auch ist die Landschaft am
t See mit Wolken, Wind und abendlichem
■ Glühen der Berghäupter eingegangen. Und wennschon er eich nach 1918 in einen Tessiner Winkel zurüdegezogen hat, der dem Unsteten, Ruhelosen wohl doch das »Gefühl einer gewissen äußeren und inneren Geborgenheit gab — nach Herkunft «nd Anlage (trotz baltischem und franzö- -eischem Bluteinschlag) ist er doch Ale- '■-tnanne, Schwabe. Seine Heimatstadt Calw
] [ im württembergischen Schwarzwald taucht äst als „Gerbersau” in vielen seiner ersten | llplrzählungen auf, deren schlichte, beseelte | ^Innigkeit ihm schon früh eine große Ge- .“tneinde zuführte; diese „kleine Welt” ist fiim zu einem Urerlebnis und zu einem Stilelement seiner Kunst geworden. Hier weht der Atem Johann Peter Hebels und i- Gottfried Kellers (in der Vorliebe für Or- i rOament und schrullige Schnörkel wohl 1 auch der Jean Pauls); die große alemanni- j «che Erzählertradition, die herzhaften „Re- . alismus” und verträumte „Romantik” so I jp reizvoll zu paaren weiß, ist auch in den frühen Romanen zu spüren, die, sehen wir von der Bubengeschichte „Unterm Rad ” i ■ ab, alle um Künstler kreisen („Camen- Bind”, „Gertrud”, „Roßhalde”).
^ Aber es geht hier um mehr als um i | Milieuschilderung — der Grundakkord, ‘der da angeschlagen wird, ist ethisch best immt: diese Menschen, seien es die Jüng- ?; Enge der Erzählungen oder die reiferen ; ^Gestalten der Romane, sie suchen alle den „Weg nach innen”, sie sind hin- und her- ; -gerissen zwischen Fernsehnsucht und ; Heimatwunsch, zwischen Bürgerlichkeit • und Nomadentum, Weltlust und Askese, Geist und Trieb. Diese Zweipoligkeit durchzieht als künstlerische Spannung das gesamte Schaffen Hesses ; vielleicht spricht es sich nirgends liebenswerter als in seinem unvergeßlichen „Knulp ” aus, diesem Träumer und Dichter der Landstraße.
; Und dann natürlich in seinen Gedichten! Wir jungen Menschen von damals sind einst mit dem verschatteten Mollklang ' dieser Verse groß geworden: träumten,
■ [-schwärmten, trauerten mit ihnen; wir L empfanden beglückt, daß hier das kost- : bare Instrument deutscher Liedpoesie, f wenn nicht in einer neuen Tonart, so in *. der altvertrauten mit schwereloser Meisterschaft gespielt wurde.
Setzen wir einmal den Fall, das Schicksal hätte Hesse etwa kurz vor dem Krieg f abberufen — was wäre von ihm geblieben? cDann hätte man sich eine zeitlang seiner wohl als eines vielversprechenden jungen 1 : Dichters erinnert, der die silberhellen wie die nachtdunklen Saiten der deutschen ; Sprache mit hoher Kunst angeschlagen. Man hätte anerkennend jener Versgebilde voller Wohllaut und Stimmungskraft ge- ^ dacht, einiger eindrucksvoller Künstler- iane und etlicher novellistischer Kabi- itstücke. Aber wir wollen uns nicht iuschen: heute wäre er fast vergessen. Es hat noch manche andere liebenswerte Und talentierte Schriftsteller vom fin de afecle gegeben, von denen heute kaum noch jemand spricht.
Nun: das Schicksal hat es anders ge- [ Wollt, und wir danken ihm dafür! Den fjfaiaginären 35' Jahren sind weitere 35 gefolgt — und sie erst machten aus Hertmann Hesse den großen Geist, den großen ^Europäer den Dichter von Weltgeltung, |dem im Vorjahr der literarische Nobelpreis zuerkannt wurde. Es war der erste i Weltkrieg , der in Hesse die freilich sehen ' lange latente Krise auslöste. Seine Kunst «etzte sich im Verlauf einer weiteren
vielschichtigen Entwicklung von dem liebenswürdigen •Ästhetizismus seiner früheren Epoche ab, ihr Gesichtskreis erweiterte eich, indem der Dichter seinem inneren Anruf folgte: Stimme der Menschheit, der Menschlichkeit zu ,sein. Wenn wir heute etwa seine politischen Glossen aus jenen Jahren lesen, so mutet uns deren Weitsicht oft wahrhaft gespenstisch aktuell an.
Sein (zuerst pseudonym erschienener) Roman „Demian ” (1919) wurde von der geistigen Jugend Europas verschlungen; sie fand hier, hinter psychoanalytischem Traumspiel und orphisch-.geheimnisvoller Erotik, ihre vom Krieg erschütterte Welt gespiegelt, hörte aus Wirklichkeit, Spuk und Mystik wieder die Stimme des großen Moralisten heraus und ließ sich durch das Stichwort vom „Bund” gleichgerichteter wesenhafter Menschen begeistern. Es flammte später noch inniger in der magischen Vision der „Morgenlandfahrt ” (1932) auf. Dazwischen liegen freilich, sehen wir von der wundervollen indischen Dichtung „Siddharthia“ ab (das piefistische Missionar-Elternhaus war auch der Mutterboden für Heeses Entwicklung zu östlicher Weisheit hin), Zeugnisse einer Epoche seltsamer, bisweilen fast krankhafter Verstrickungen des Ich: che höllische Ekstatik von „Klingsors letzter Sommer ”, die zersetzende Skepsis autopsychopathi- echer Studien wie „Kurgast” oder gar der verzweifelte Nihilismus des „Steppenwolfs” (1927), den man fast als eine Art Selbstmord-Ersatz bezeichnen möchte, und schließlich die strotzende Vitalität und
doch von leiser Melancholie überschattete Sinnlichkeit von „Narziß und Goldmund ”
— lauter Stationen des Pilgers HermannHesse am steilen Kalvarienberg seiner Existenz.
Zehn Jahre lang hat er dann an seinem krönenden. Lebenswerk gearbeitet, dem „Glasperlenspäel“ (1943), mit dem er sich den großen Genien der Weltliteratur, den großen Menschheitserziehern zugesellt. In Form eines utopischen Romans türmt eich ein Werk, in das die Erfahrungen eines langen Lebens, das jahrzehntelange Grübeln und Sichherumschlagen mit allen Problemen und aller Problematik des menschlichen Daseins, Sinnen und Trachten eines Dichter-Denkers hineingeflossen sind. „Nur” eine Utopie, gewiß
— aber ein hohes Sinnbild und verpflichtendes Ideal. Es müßte einer eingehenderen Untersuchung Vorbehalten bleiben, festzustellen, inwieweit dieses mächtige, ganz dem Geist und der religiösen Sphäre verhaftete Werk zu den Meisterschöpfungen der Weltliteratur zu zählen ist, das den naheliegenden Vergleich mit Goethes „Wilhelm Meister ” und Stifters „Nachsommer” nicht zu scheuen hat. Es gehört u. E. zu den Büchern, die, früher oder später, Epoche zu machen bestimmt sind.
Hermann Hesse hat uns immer das Bild des echten Dichters verkörpert, stets hat er die äußere und innere Existenz für sein priesterliches Dichteramt eingesetzt und es unter Lust und Qual geübt. Sein Werk als Ganzes, so idh-bezogen, ja, ich-beseseen es oft erscheint, stand und steht im Dienst der Menschlichkeit. Wir sind stolz, daß wir diesen Kämpfer für Humanität und Freiheit zu den Unseren zählen dürfen. Dr. Karl Fuß
Kleine Katastrophen /
Von der großen Geschichte vielleicht wegen Geringfügigkeit gänzlich übersehen, aber gerade deshalb von der „kleinen Geschichte” um so pfleglicher zu betrachten und zu beachten, scheint mir in unserer erregenden Zeit der Stürze, Umwertungen und Tyrannenvertreibungen vor allem das tragikomische Ende einer besonderen Form von Tyrannei: Entmachtet und entthront ist der Haustyrann, der gehegte, gepflegte, halbgöttliche Ehren genießende, hochgeistig tätige Familienvater. Unnahbar saß er in seinem gehüteten Privatkabineti, dieser König, und seinen Schreibtisch durfte selbst die Frau Königin nicht staubwischend oder gar ordnend berühren, geschweige ein niedriges Mitglied des Schloßpersonals. „Seine Majestät, der Papa, arbeitet", flüsterte die Königin angstvoll, wenn die Prinzen lauf werden wollten, und sie mußten, um den Herrn Vater ja nicht zu stören, auf die Straße hinunter, wo sie die Sprache des gemeinen Volks rascher leimten als Griechisch und Latein. Tiefe Stille wurde vor dem empfindlichen Tyrannen wie ein Teppich gebreitet oder wie ein Rollfeld, von dem allein er zu seinen Höhenflügen starten konnte, und er schlug den Purpur seiner eigenen Wichtigkeit majestätisch um die Schultern und diente dem reinen Geiste.
Reibungslos lief die Maschinerie des königlichen Haushalts: für die Finanzierung sorgte der Herrscher, zu seiner Ehre soll es gesagt sein, in großzügiger Weise, aber um die Einzelheiten, um die widerlichen Kleinigkeiten sich zu kümmern, war er viel zu groß. Wenn die Prinzen zuweilen ein Unheil verübten, wenn einer zum Beispiel mit seiner ritterlichen Armbrust ein teures Schaufenster durchschoß, dann durfte Seine Majestät um keinen Preis davon erfahren, nicht etwa der Entschädigung wegen, sondern nur, damit ihm jegliche _ Ablenkung fembleibe, und selbstverständlich blieben ihm die hausfraulichen Sorgen der Königin, beispielsweise die Schwierigkeiten, die es machte, Leckerbissen für den allerhöchsten Gaumen zu beschaffen, sorglich vorenthalten, und in so unirdischer Höhe und Einsamkeit thronte er, daß er beinahe ahnungs
los blieb, als jahrelang auf Eiden schon die Hölle los war. Zwar mußte auch er in dieser unbegreiflichen Zeit öfter in den Keller des königlichen Schlosses und war dann überaus unwirsch, wenn er dort Niedriggeborene antraf, die sich ihm in ihrer Todesangst so furcht- und ehrfurchtsios nahten, als sei er ihresgleichen, genau wie beim Erdbeben die Schafe sich um den Löwen drängen und im Wahne, daß im Tode alle Standesunterschiede aufhören, sich wie ebenbürtige Kreaturen betragen.
Wie durch ein Wunder blieb sein Palast verschont, aber ein fremdes Volk drang siegend in die Residenzstadt, und er mußte fliehen. Die Königin und die Prinzen konnten nur soviel mitnehmen, wie sich in-einem Koffer tragen ließ, und ihre zarten Hände konnten selbstverständlich nicht allzu viel hagen. Sie packten in der Panik viel überflüssiges ein. Er selber sogar, der Erlauchte, mußte gleichfalls einen Koffer zur Hand nehmen, aber schon damals zeigte es sich, daß eine wirklichkeitsnahe Klugheit in seinem Haupte zu keimen begann, denn er ließ seinen Purpurmantel, sein Zepter, seine goldene, viel zu schwere Krone und seinen Reichsapfel zurück und zog, da eine grausame Kälte herrschte, einen dicken Wintermantel an, setzte eine Pelzmütze auf, die ihm bis über die Ohren ging, packte einen Laib Brot ein und ergriff einen zu- veriässgen Wanderstab.
Und jetzt?
Jetzt ist alles so aberwitzig anders geworden, daß die Personen des königlichen Haushalts manchmal meinen, von einem verrückten Traume koboldisdi geäfft zu werden, weil nur im Traume, so wähnen sie dann, dermaßen tolle Sprünge. Stürze und blitzschnelle Verwandlungen zustandekämen, aber sie träumen keineswegs, und der König selbst ist längst ein guter Kenner der gemeinen Irdisdikeit geworden und der erste, der den andern zuruft: „Ihr schlafet nicht, meine Lieben! Das Leben ist wirklich so!"
Er hat nun keinen Palast mehr; die ganze königliche Familie bewohnt zwei Zimmer und Küche, und viele andere Menschen, die
aus dem gleichen Lande geflohen sind, finden trotzdem, daß die Königsleute schon wieder recht königlich leben, weil die meisten von ihnen, Mann, Weib und Kinder, mit einer einzigen Stube vorliebnehmen müssen. Im Winter freilich nützt dem König die ganze Zimmerflucht von zwei Räumen nicht viel, da er kaum Brennholz genug für einen einzigen hat, und es gibt kein Rollfeld für seine Höhenflüge, kein Alleinsein, keine Stille, keinen allerheiligsten Schreibtisch mehr wie im goldenen Einst, sondern die Prinzen schwatzen und spielen und zanken sich ganz unverfroren im gleichen Raume, wo der Exkönig eigentlich fliegen möchte, und der Tisch ist nicht mehr nur dem reinen Geiste Vorbehalten, sondern am gleichen Tische machen die Prinzen ihre Schulaufgaben, am gleichen Tische wird sehr bescheiden getäfelt, am gleichen Tisch auch stopft die Frau Königin Strümpfe oder flickt die prinzlichen Hosenböden, und neulich sagte sie seufzend zu Seiner Majestät: „Mit deinen Socken, mein Freund, sieht es katastrophal aus!" „Dann werden Wir", antwortet er ruhevoll und lächelte huldreich, „wenn der Lenz gekommen ist, einfach barfuß gehen, wie Gott Uns geschaffen hat Auch heißt es ja, diese adamitische Art verlängere das Leben!" Er legt also Wert auf langes Leben, und selbst das kronenlose Dasein scheint ihm lebenswert.
Längst darf sich die hohe Dulderin erdreisten, ihm mit dergleichen Dingen des Alltags zu nahen, längst leiht er ihr für dih ungeistigsten Anliegen ein wohlwollend geneigtes Ohr, denn er ist ein Mensch geworden und bewundert seine Königin mit immer sich vertiefender Innigkeit, Dankbarkeit und Ehrfurcht, weil sie mit ihren schönen, einst so feinen Händen derartig tapfer in den — Dreck greift und gänzlich ohne Märtyrerinpose, und ohne einen hohen Orden zu begehren, einfach tut, was den Ihrigen dienlich ist und was sie als ihre Pflicht erkannt hat Und so darf sie, ohne daß er in königlichem Zorne rast, weil man ihm Sandkörner in das Getriebe seines Höhenflugmotors streue, ihm alle ihre Sorgen wie einem getreuen und geduldigen Kriegskameraden getrost anvertrauen: die Schuhe der beiden Prinzen seien unbedingt zu besohlen, sonst müßten sie barfuß in die Schule, während doch die einheimischen Kinder allesamt gutes Schuhwerk hätten, aber der Schuster nehme einfach keine Arbeit mehr an, er sei so überlastet Und der König entgegnet freundlich: „Wie ich über das Barfußgehen denke, weißt du bereits, teure Frau! Und nicht die Schuhe beweisen das edle Blut!"
Oder sie klagt ein wenig, es sei ein schier unlösbares Rätsel, wie sie ohne Fett kochen solle, oder sie habe für den gesamten königlichen Haushalt nur vier geschenkte Teller gehabt, nun aber sei ihr einer beim Geschirrspülen entzweigegangen, oder Prinz Andreas habe sich kürzlich beim Nachbarn das Leiterwägelchen entliehen, und unglücklicherweise sei unter seiner etwas zu lebhaften Lenkung ein Rad gebrochen, oder der ältere Prinz habe über da« weiße Tischtuch, das doch nur geliehen sei, das halbe Tintenfaß ausgegossen, und die Hosen, die Hemden und wieder die leidigen Strümpfe, und es'dehle an Wolle, an Stopfgarn, an allem...
Ja, mit solchen Dingen darf sie ihm also kommen, mit lauter Lappalien, die sie früher lautlos mit Hilfe ihrer gutgefüllten Privatschatulle geregelt hat, mit solchen Sandkornaffären, ehe früher so gut wie gar nichts waren, in dieser verwandelten Welt aber große Katastrophen und wichtig genug sind, in einem Kronrat behandelt zu werden, und da der König weiß, daß die Frau Königin genau genommen keineswegs praktische Ratschläge von ihm erwartet, die er wahrscheinlich auch nicht geben könnte, sondern einfach, indem sie ihrem einstigen Glanz- und späteren Flucht- und jetzigen Notkameraden ihre Sorgen anvertraut, sich da« Herz erleichtern und es zu neuem Alltag beschwingen will, hört er sie an, und manchmal schweigt er zu allem und streichelt nur einmal über ihre häßlich gewordenen, guten Hände oder über ihr früh grau
Die Marmorsäge tief im hellen Tale,
Den Bach, den Wald, das Forsthaus fern
im Grunde,
Die große Nacht unter dem Stemensaale
Zeigtest du mir in blauer Musenstunde.
Dann aber nahmst du mich zu dunklen
Gängen
Ins eig’ne Ich, hinab die finsteren Stufen
Der Marschenseele, wo mit scharfen Fängen
Schwermut uns schlägt und die Dämonen
rufen-—.
Und wieder aufwärts ging es zu den
Firnen
Der großen Sehnsucht und der lichten
Geister.
Und hell umstrahlt von leuchtenden Gestirnen
Stand’st du im Ring der Seher und der
Meister.
gewordenes Haar, das nun kein Diadem mehr trägt.
Eines Tages aber sprach er: „Große Katastrophen, kleine Katastrophen! Was ist groß, was ist klein? Wir selber sind das Maß der Katastrophen. Wenn wii nur selber groß sind, dann werden die Katastrophen allesamt kläglich und klein!" Und er lächelte die Königin und die ein bißchen bange gewordenen Prinzen so freundlich an, daß sie ein sonderbares Gefühl empfanden, als wüchsen sie wirklich, und zwar ihre Kittel seien ihnen zu klein und die Aermei zu kurz, sie selber aber seien doch gerade und groß.
Und der Vater fuhr fort: M» habe damals, als wir so plötzlich aus der Heimat fliehen mußten, doch eine Kostbarkeit aus Unserm Kronschatz eingepackt und mir vorgenommen, sie euch zu zeigen, wenn ihr einmal ganz am Verzagen wäret. Ich will sie holen!" Und er ging und holte aus dem Koffer, in dem er auch seine alte, schon sehr graue und zwanzigmal geflickte Wäsche verwahrte, einen wunderbar leuchtenden, goldenen Pokal und stellte ihn andachtsvoll, aber lächelnd, auf den Schreib-, Eß- und Nähtisch.
„Was ist das?” fragte er. „Erkennt ihr ihn wieder? Ich habe früher leider nur selten daraus getrunken. Erkennt ihr ihn?" Und die Frau Königin und die Prinzen erkannten den kostbaren Becher sofort, deu Wunderkelch, aus dem man nur einen Schluck zu tun braucht, um Not zu entbittern und Finsternis zu erhellen, ja, den man nur anzuschauen braucht, um schon von seinem segnenden Widerschein erquickt zu werden, und sie riefen wie aus einem Munde den Namen, den dies Meisterwerk höchster Goldschmiedekunst und uralte Erbstück der königlichen Familie seit jeher trug, sie riefen den heiligen Namen: „Humor!"
Spät in der Nacht und ganz früh am Morgen, wenn die Königin und die Prinzen schon oder noch der Ruhe pflegen, unternimmt der König in der Stille seine Höhenflüge, aber niemals fliegt er so dünkelhaft hoch, daß er nicht immer wüßte, wie schön die niedrige Erde auch jetzt noch ist, die ihm zwar die Residenz, den Palast, die Krone und den Purpur genommen, aber die Königin, die Prinzen und jenen goldenen Becher belassen hat
Aphorismen
Die Protektion ist die Prothese des Stümpers.
Dummheit wird zum Verbrechen, wenn sie anderen schadet.
Es ist paradox, daß die Menschen über schlechte Zeiten jammern, die sie selbst herbeigeführt haben.
Eduard Weinberger
Jbia Schon* tÜ*U
Fußwanderung durch den Orient /
Von
Otto Hengel
Vor etwa 35 Jahnen hat unser Koostanzer Mitbürger als Koradatar-Geseiläe zu Fuß den fernen Orient durchwandert.. Die Welt, in der solches möglich war, ist (bis zum ensten Weltkriege) aMein deshalb schon noch wirklich eine schöne gewesen. Ein für wenige Franken von einem Deutschen Konsulat in der Schweiz ausgestellter Reisepaß genügte für die ganzen MittetoeenLärnder! Aus dem Reisetagebuch, das Otto Hengel damals lauter dem Titel „Vom Genfer See bis zum Toten Meer " geschrieben hat, greifen wir hier ein paar Absätze heraus. Von Genf über den Großen St.Bernhard marschierend, ist der VerfaqBer über Italien und Aegypten allmählich ins Gelohte Land gelangt; wir lassen ihn zunächst seinen Marsch von Jaffa nach Jerusalem schildern.
Von Jaffa nach Jerusalem Sooft ich nach Meersburg hinüberfahre, aert mich das schöne Boden seestä dt- :«hen aa das historische Jaffa in Palästina, das auch auf einem Hügel steht. Da lag es [«Iso, das kleine Land Palästina, da« nicht Einmal so groß ist, wie meine Heimat ■ [Württemberg und doch im Geistes- und * Seelenleben der gebüdeten Völker der Erde «eit Jahrhunderten eine erste Stelle ; «innimmt. Hier befindet sich die Geburts - : «tätte des Christentums, hier ist das noch Viel ältere Judentum verankert, hier wur- Ide später auch die Grundlage zur Aus- j «reitung des ( Islams im Orient gelegt. t Mit verblüffender Schnelligkeit kommt der Abend hierzulande heran, und ein herrlicher Sonnenuntergang voll be-aubemder Schönheit beschloß meinen ersten Tag im ^Heiligen Lande. Am anderen Morgen ftoachte ich mich frühzeitig auf die Beine, \ gen mein nächstes Ziel, Jerusalem , womög- püh noch am gleichen Tage zu erreichen.
; pie Sonne stand schon hoch am Himmel,
: «Is ich meinem jüdischen Gastgeber in $affa Lebewohl sagte und der Ebene Sa- zuwanderte. Von hier aus sollte nun
meine große Fußwanderung beginnen. Schon dazumal gab es in Palästina Eisenbahnen, und es wäre mir leichter gewesen, mit der Bahn nach Jerusalem zu fahren, als auf Schusters Rappen dorthin zu streben. Das wollte ich aber nicht in einem Lande, wo man auf Schritt und Tritt den von der Bibel her so vertrauten Orten begegnet, in denen man gerne verweilt.
Anfangs ging es ganz gut, die Sonne brannte mächtig, es war wirklich die (mir wohlbekannte!) Backofenhitze. Obwohl mir bewußt war, daß ich nun in Gegenden käme, wo es wenigstens damals sehr unsicher und gefährlich war, empfand ich keine Furcht, hatte für den äußersten Notfall auch eine Schußwaffe bei mir, die ich aber, Gott sei Dank, niemals habe gebrauchen müssen. Die Straßen waren nicht in allerbester Ordnung, Autos gab es damals noch keine im Heiligen Lande, und der Verkehr war ganz schwach. Ab und zu begegnete mir ein arabischer Fellache, auf seinem Eselein reitend, oder eine Pferdedroschke fuhr vorüber. Ortschaften waren unterwegs eine Seltenheit, und kam man an solchen vorüber, so konnte man nichts für sein Geld erhalten. So war man auf die an der Straße liegenden Klöster angewiesen, in denen einen die hilfsbereiten Mönche gerne mit einem Trunk frischen Wassers, etwas Brot oder Südfrüchten stärkten. Die Bäche waren überall vollständig ausgetrocknet, obgleich es erst Anfang Mai war.
Als ich so die halbe Strecke hinter mir hatte, gesellte sich plötzlich ein ganz zerlumpter arabischer H andwerkSbursche zu mir, der nicht mehr von meiner Seite wegzubringen war. Er wollte seinen „Back- schisch“ von mir haben, aber ich gab ihm nichts, er konnte machen, was er wollte; ich hatte bald selbst nichts mehr. Um firn
endlich loszukriegen, ging ich kurzerhand über Aecker und Weinberge, wohin er mir nicht gut nachkommen konnte, weil er vollständig barfuß war und ihm die spitzigen Steine in den Weinbergen doch zu sehr seine nackten Füße gekitzelt hätten. So kam ich vom Wege ab, und es kostete mich nicht geringe Schwierigkeiten, die Richtung wieder zu finden. Es war gegen 9 Uhr abends, die Sonne war schon längst mit aller Pracht und Herrlichkeit untergegangen, während der Vollmond in nie geschauter Schönheit am Himmel stand und das ganze Land in ein rosiges Zauberkleid tauchte, als ich, ein müder und hungriger Wanderer, durch das Jaffator in Jerusalem einzog. Eine immerhin respektable Leistung, solch eine Tour von über 70 Kilometern an einem Tage, unter Sonnenbrand und Wassernot in einem ganz fremden Lande und ganz allein! Solch eine Strecke habe ich weder vorher noch nachher je an einem Tage gemacht, selbst im Weltkriege nicht.
Im Lande der Syrier war das Reisen noch weniger angenehm als in Palästina. Mein Weg nach Damaskus führte über eine großangelegte Römerstraße, die aber unter den Türken mehr und mehr verlottert war. Mehrere kleine Kastelle legen von der einstigen Macht der Römer in diesem Lande Zeugnis ab. Die vielen Baumgärten, welche nun auftauchten, waren schon die Vorboten der Stadt Damaskus Sie liegt mitten im Grünen, umgeben von lauter blühenden und fruchttragenden Bäumen. Eine so üppige Vegetation hatte ich im Leben noch nicht gesehen. Mit Recht heißt die Stadt „Garten und Perle des Orients“. Ihrem großen Wasserreichtum verdankt sie die Fruchtbarkeit ihres Bodens. Von allen Richtungen kommen die Bäche und Flüsse in die Stadt, ganze Kanäle laufen unterirdisch durch die Straßen, ja sogar unter den Häusern durch kann man das Rauschen des Wassers ver
nehmen. Außerhalb der Stadt stürzen links und rechts der Straße die Bäche von den Hängen in die Flüsse hinein, die beiderseits des Weges stadtwärts führen. Das meiste Wasser kommt wohl vom nahen Libanon -Gebirge. Was für ein schroffer Gegensatz zwischen Jerusalem und Damaskus : dort nur ausgetrocknete Bäche, hier Flüsse und Kanäle voll zum Ueber- iaufen!
Ziemlich im Zentrum der Stadt liegt der große Bazar, in einer langen, oben ganz abgedeckten Straße, auf den ersten Blick also etwas düster und unheimlich. Hin und wieder strömt durch einen offenen Teil des Daches Luft und Licht herein. Eine Welt für sich — und was für eine 6chöne, eigenartige und interessante Welt! Jeddfc Gewerbe hat seinen eigenen Bezirk; friedlich nebeneinander halten die Konkurrenten ihre Ware feil. Alles ist in ungeheuren Mengen aufgestapelt. Perserteppiche, Stickereien, Perlen und Diamanten fallen besonders ins Auge. Die Süßwarenindustrie ist reichlich vertreten, türkischer Honig, Kokosnüsse und alle Südfrüchte. Eine eigentliche Konditorei sah ich bis hierher im Orient nicht.
Nach kurzem Aufenthalt in der syrischen Metropole machte ich mich wieder auf die Beine, in der Richtung der Stadt Beirut zu, am Mittelländischen Meer . Ich hätte mit der Bahn fahren können, aber nachdem ich bald durch ganz Palästina und Syrien zu Fuß marschiert war, wollte ich auch diese Strecke durchhalten. So zog ich gradewegs über die langgestreckten Rük- ken des Libanon, der überaus reich an Obst- und Blumengärten ist, übersät von allen Südfrüchten, Oliven, Datteln, Orangen, Feigen usw. Es war eine Lust, über dieses nicht besonders hohe Gebirge zu marschieren, das ein ausgezeichnetes Klima besitzt — was auch die vielen Ansiedlungen und Landhäuser auf dem Wege verraten. Auf dem Libanon wächst bekanntlich das Zedernholz, das König Salomo zum Bau seines Tempels nach Jerusalem holen Heß.
Stundenlang vorher schon sah ich von meinem Höhenweg herunter die Stadt Beirut am Meere liegen, ähnlich wie Damaskus von lauter grünen Baumgärten umschlossen. Gerade, als ich in Beirut mit dem Rucksack auf dem Rücken einmarschierte, fiel ein tüchtiger Platzregen, ein* kleines Ereignis für diese Jahreszeit. Bis* war der erste und letzte Regen auf meiner ganzen Wanderung durch den Orient. Das Leben in Beirut ist bald so orientalisch wie in Kairo oder Jerusalem . Der Syrier ist aber ein ganz anderer Schlag als etwa der Araber in Aegypten , er ist viel ernster und auch kriegerischer veranlagt. Die besser situierten Syrier sprechen größtenteils französisch, was sie vielfach in den Klosterschulen lernen. Hier in Beirut traf ich auch die erste Konditorei nach europäischem wüster an, und der Zufall oder das Glück wollte es, daß ich gleich in dem Geschäft Stellung fand. Der Inhaber war ein Franzose, mit dem gut auszukommen war. Viel Eis wurde hergestellt, im heißen Orient nicht zu verwundern. Die drückende Hochsommerhitze machte das Arbeiten allerdings zur Qual, und als es zu arg wurde, schloß der Franzose seinen Laden, wie alljährlich um diese Jahreszeit, lud seinen Kram auf Kamele und zog für die heißesten Sommermonate nach dem Libanon in sein zweites Geschäft, wo er zwischen lauter begüterten Syriern, die während des Sommers hier in ihren schattigen Landhäusern wohnen, gut verdiente Zu Schiff ging die Fahrt heimwärts, an Cypem und Smyrna vorüber. Im Mar- mara-Meer glühte der Himmel gerade noch einmal von der scheidenden Abendsonne in jener überirdischen, unaussprechlichen Schönheit, wie ich es in Aegypten und Palästina so oft erlebt hatte.